Zeit für Kultur
  Kultur in verlassenen Räumen
 

Leseprobe  ... häßliches Kind, autobiografischer Roman  

Buchveröffentlichung Frühjahr 2021


Nekrolog

Seine Inszenierung. Sein Tag.

Die Sonne war strahlend aufgegangen und gab sich alle Mühe, doch noch Verborgenes, Erhellendes für die neugierig trauernden Gesellschaft aus dem Schatten hervorzuholen.

In der Hoffnung auf einen Skandal, vielleicht auch nur ein ganz kleiner, augenzwinkernder böser Seitenhieb, waren sie zahlreich in der mit Sonnenblumen ausgeschmückten Kapelle erschienen. Sie platzierten sich aus Gründen einer möglichst zu vermeidender Identifizierung mit dem Toten demütig in den hinteren Reihen.

Seine entworfene Abschiedsinszenierung lag ihm, denn mit seinem kirchenmusikalischen Hintergrund besaß er beste Kenntnis und Geschmack in Sachen Totenmesse mit und ohne Glauben. Zu Lebzeiten hatte er diesen orgelnden Einsätzen freudig zugestimmt. Zum einen wurde sie nach Vollzug bar bezahlt, zum anderen hatten die musikalischen Beiträge durchweg einen getragenen Charakter, also mit wenig Noten von langer Dauer verstrich viel Zeit. Er wusste um die mütterlichen Kämpfe einen Gesangsauftritt der pubertierenden Tochter gegen deren Willen durchzusetzen, vorm Sarg mit Blitzlichtbegleitung des Onkels für die Nachwelt, das gehört dazu. Um diesen und anderen Peinlichkeiten vorzubeugen, hatte er früh seine eigene Liturgieinszenierung für diesen Tag notariell beglaubigen lassen. Die sicherste Methode einer Blockflöte spielenden Verwandtschaft die Luft abzudrehen.

So exakt vorbereitet konnte er sein eigner unerkannter Gast sein und sich selbst beschenken, denn er hatte allen etwas voraus, besser hinter sich.

Mit nötigem Abstand und einer himmlischen Leichtigkeit betrachtete er seine tote Hülle von außen, war eher amüsiert darüber, was er in den letzten Jahren seiner Mitwelt an oberflächlicher Kosmetik so zugemutet hatte. Das „Jeder ist für sein Gesicht selbst verantwortlich“ hatte allerdings seine unterschwellige Drohgebärde verloren. Dieser Rest war nicht mehr der Rede wert, eine abgewirtschaftete Behausung ohne Neubelegungsplan, wer will da schon rein, nicht einmal für eine knapp befristete Verlängerung.

Da er die Verantwortung über den Zustand dieser Verpackungshülle längst abgetreten hatte, diente sie nur noch dem Beerdigungsinstitut als Quittung für eine geleistete Entsorgung. Somit kein Grund zur Trauer.

Er war tot, worüber hätte er noch Zeit zum Reden gebraucht? Die hier Anwesenden bevorzugten zur Ablenkung von der eigenen Realität durch „dem Toten die Ehre zu geben“. Für ihn war das nie eine Option dieses zeitverschwendende Ansinnen hatte ihm schon zu Lebzeiten aus Gründen eines fehlenden Gegenübers nicht gelegen. Alle starrten auf den Sarg, in dem sich nun gar nichts mehr ereignen konnte, keiner hatte ein Auge für seinen entkernten Schwebezustand in der muffigen Friedhofskapelle.

Nein, mit dem Tode ist nicht alles vorbei, die Neugier ist und bleibt unsterblich. Genau aus diesem Grund füllte sich der Raum knapp oberhalb der Trauergemeinde mit zerzausten, flügelschlagenden Wesen. Alle waren aus ein und demselben Grund eingeschwebt: Wer ist dieser Neuzugang und überhaupt ist der Typ kompatibel mit uns?

Er hingegen konnte in seiner komfortablen Position genau einschätzend erahnen, wie niedrig seine Akzeptanz bei diesen neurotischen Gebilden sein würde. Die meisten dieser Vorweggegangenen hatte er schon zu Lebzeiten nicht ausstehen können. Nun sollte er mir ihnen gemeinsame Sache machen?

Friedhofskapellen heimsuchen aus Angst vor Fremdeinfluss?

Zudem war deren Auftritt nun wahrlich nicht attraktiv zu nennen. Blutleer und vertrocknet, nervös und oberflächlich. Kurz alle irdischen Unarten ohne verbergende Schutzschale hatten sie diese Untugenden ins Zwischenstadium mitnehmen können, um erneut Einfluss auf seine ersten Schritte zu nehmen.

Nein, mit dem Tod ist leider nicht alles aus, auch für ihn nicht, doch das Leben hatte ihn gelehrt, Übergriffe dieser Art einfach zu ignorieren.

Doch bei allem vordergründigen Luftnummern seiner Verwandtschaft übersah er fast seine Großmutter mit seinem Lebenspartner tief in ein Gespräch versunken.

Zu Lebzeiten war diese Nähe eher nicht gegeben. Die Großmutter mochte ihn, war er doch ebenso akkurat wie sie gewesen.

Ihre besorgte Frage an dieses Männerbündnis: „... und wer bügelt die Oberhemden bei euch?“

Er hat seine Großmutter sehr geliebt, gerade dafür. Hatte sie doch immer einen Blick für das Wesentliche.

Ob sie sich auch in diesem Moment für ihn entscheiden würde, ihn nochmals zu sich aufnimmt? Zumindest hatte er den ersten Ansatz von Flügeln, wie sie.

Mit diesen wehmütigen Gedanken, die sich leider aus purem Selbstmitleid zusammensetzten, hatte er für nur wenige Sekunden seine Inszenierung aus dem Blick verloren. Und dann geschah das Unfassbare, das von ihm nicht Erdachte, von ihm auch nicht Gewollte: Aus der homogenen Masse der Trauernden erhob sich eine strahlende Mittvierzigerin, seiner Mutter aus besten Zeiten schockierend ähnlich sehend. Nach kurzer Taxierung ihrer Umgebung strebte sie mit festem Schritt auf den Sarg zu, drückte nach einem kurzen respektvollen Innehalten einen laut schmatzenden Kuss in Stirnhöhe auf den Sargdeckel. Verkündete dann für den Anlass ein wenig zu laut:

„Du bist es also, der es in unserer Familie ohne Ausbildung zu etwas gebracht hat“.

Mit diesem ebenso knappen wie zutreffenden Satz, durchkreuzte die arglose Cousine seine mühevolle, seit Jahrzehnten aufgebaute Fassade und brachte sie vor der versammelten Trauergemeinde zum Einsturz. Auch der arg strapazierte Luftraum mit seinen verdutzt dreinschauenden Fabelwesen stürzten sich fassungslos in die Tiefe. Das hatten sie ja noch nie erlebt und wehrten sich vehement gegen seine Aufnahme in ihren Reihen.

Auch die traurige Gemeinde geriet, soweit die Etikette es erlaubte, in eine immerhin noch geordnete Unruhe.

Nicht, dass es nicht alle gewusst hätten – nein, das über Jahre hinweg gepflegte Desinteresse an ihm war zu einer verschwiegenen Schutzhülle geworden.

Gerade noch rechtzeitig vor dem Ende des Beerdigungsritual, an diesem Tage des Abschieds, kann die Form des törichten Anstands schon mal strapaziert werden dachte er, fröhlich flügelschlagend, über einer deutlich meinungsfreudigeren Versammlung.

Aufmunternde Bekenntnisse wie diese münden posthum für die Nachwelt in ein unkontrollierbares „Niemals geht man so ganz“.

Hier hat der Tod offensichtlich auch nicht das letzte Wort. Etwas bleibt, und das „Etwas“ muss sich nicht zwangsläufig mit Ruhm bekleckert haben.

So hatte er seine Cousine verstanden und liebte sie für das Stückchen verschwiegene Wahrheit nebst ihrem Auslegungsfreien „zu etwas gebracht hat“.

Dieses „Etwas“ hatte für ihn keine einengende Bedeutung mehr.

Die Türen der muffigen Friedhofskapelle öffneten sich theatralisch,

die Sargträger teilten sich mit stoischer Würde die bedeutungslose Last.

Selbst die Sonnenblumen nahmen ein letztes Mal Haltung an, und schauten dem Leichenzug eher gelangweilt hinterher. Nicht ohne Häme kommentierten sie, sich dabei eifrig zunickend: „Trauer setzt Verlust voraus.“

Vor diesem Hintergrund konnte er sich heiter beschwingt als Letzter dem Trauerzug anschließen. Gerade noch rechtzeitig vor dem Absenken des Sarges in die kalte Erde wurde ihm klar, dass er wiedermal hinter sich selbst hergelaufen war.

Mit starken Flügelschlägen schwang er sich von allen und allem befreit hoch in die Lüfte. Wie immer ohne Ziel, aber grenzenlos. Das war neu!

Er wurde leichter, 

gelöster, 

vergaß das 

Atmen

 
 
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